Etwas Geliehenes
Lieber Marco, du denkst noch an das, was ich dir geliehen habe, nicht wahr? Du hast doch nicht vergessen, dass du es mir zurückgeben musst, du hast es natürlich nicht verloren, du hast es bei dir, du hast es immer noch im Kopf, nicht wahr? Du hast mich freundlich darum gebeten, in der dir eigenen gut erzogenen Art, und ich habe es dir gegeben. Ich konnte nicht anders, ich freue mich, dir in gewisser Weise nützlich gewesen zu sein. Für deine Arbeit, für deine persönlichen Angelegenheiten, für dein Leben, ehrlich gesagt, ich weiß nicht wofür, aber du hast es wirklich gebraucht, und ich habe es dir sofort gegeben. Ich hatte keinen Augenblick Bedenken: was, wenn er es verschwendet, wenn er es mir ein wenig aufbraucht, wenn er es zerstört? Ich weiß, du bist ein anständiger Mensch. Gewiss hast du das, was ich dir gegeben habe, ins Safe gelegt. Das sagt man so, ich weiß natürlich, dass du kein Safe hast, ich hätte genauso gut sagen können, in eine Kristallvase, hinter einbruchssicheres Glas, du verstehst schon. Jedenfalls bin ich sehr zufrieden, denn wenn man eine gute Tat vollbringt, fühlt man sich besser. Gute Taten sind fast wie eine Form der Selbstliebe.?Ich mag das Lächeln und Dankeschön des Bettlers, den Freund, der mich anruft und sagt, was hätte ich ohne dich getan? Ich stelle mein Licht unter den Scheffel, werde immer bescheidener, sage, jeder hätte genauso gehandelt, aber innerlich triumphiere ich, wenn du wüsstest, wie ich triumphiere, lieber Marco. Sich nützlich fühlen, notwendig, sogar unentbehrlich, was für ein Vergnügen! Jemand ertrinkt und nur ich besitze das rettende Seil. Jemand verbrennt und ich habe das Löschwasser. Jemand verhungert und ich habe ein gutes Stück Brot. Und wie sie mir dann die Hände küssen, lieber Marco, wie sie vor mir kriechen, was für eine Freude. Also, ich habe dir was gegeben, du hast es genommen, du hast es ausgenutzt, aber jetzt musst du es mir zurückgeben. Sag mir wann, sag mir wo, sag mir einfach Bescheid, lieber Marco. Bis bald. Und er lässt mich vor der Haustür stehen, er entfernt sich mit kurzen schwarzen Schritten, und ich erinnere mich an gar nichts mehr. Was hat er mir geliehen? Ich weiß es wirklich nicht mehr. Vielleicht ein Buch, ich brauchte ein bestimmtes Buch für eine Konferenz, für einen Artikel, keine Ahnung, um es zu lesen, und er hatte es. Ich nicht und er ja. Und dann ich ja und er nicht. Aber er will es wiederhaben, und zwar bald.?Dieser Mann hat Rachegedanken, er lächelt, er hilft, aber er ist ein Wolf im Schafspelz. Ich muss zurück in die Wohnung und suchen. Aber was oder welches Buch suche ich eigentlich? Was, wenn es gar kein Buch ist? Wenn es stattdessen ein Pullover ist, mir war eines Abends kalt, und er hatte zu mir gesagt, keine Sorge, ich leihe dir diesen flauschigen Pullover, zieh ihn ruhig an, du kannst ihn behalten, solange du willst, aber vergiss nicht, ihn mir zurückzugeben, ich hänge sehr an diesem Pullover, wenn du nur wüsstest, wer ihn mir geschenkt hat. Ja, vielleicht war es ein Pullover, aber ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich fühle tief meine Schuld, die die Wände meiner Seele hinunterrinnt, es ist eine klebrige Substanz, die jeden Spalt füllt, das Licht auslöscht, den Atem nimmt. Ich durfte es nicht annehmen. Warum habe ich nachgefragt und habe dann zugegriffen? Moment mal, habe ich wirklich nachgefragt? Ich weiß es nicht mehr. Aber sicher habe ich zugegriffen. Das Verlangen, die Sehnsucht, der Eifer, noch was mehr zu besitzen, dieses eine Ding, so wie ich mir als kleines Kind unbedingt ein Spielzeug wünschte, aber nicht den Mut hatte, meine Eltern darum zu bitten, denn schon das Wünschen war Sünde.?
Ja, lieber Marco, ich stehe direkt unten vor deinem Haus, ich sehe die Fenster deiner Zimmer hell erleuchtet, deinen Schatten, der sich hin und her bewegt. Lass dir Zeit, reg dich nicht auf, du brauchst mir das Ding nicht heute Abend zurückzugeben, ich bin nicht einer mit der Uhr in der Hand, ich will, dass du dir keine Sorgen machst, du suchst in Ruhe, und in den nächsten Tagen gibst du es mir wieder. Leg dich nur ruhig hin, ich bleibe hier unten stehen, ich habe alle Zeit der Welt, ich habe keine weiteren Verpflichtungen. Ich öffne Truhen, lasse Schubladen auf den Boden fallen, räume Schränke aus, sperre Glasschränkchen auf, obwohl ich weiß, dass ich das Ding nicht mehr habe. Ich habe es verloren. Es muss im Bus passiert sein, ich bin aufgestanden und es ist auf dem Sitz liegen geblieben. Oder es ist mir auf der Straße runtergefallen, es war so klein, dass ich es gar nicht gemerkt habe, ich habe nicht einmal das Klirren auf dem Bürgersteig gehört. Ich schwitze, was soll ich tun, was soll ich dem Mann da geben. Ich sehe ihn, wie er im Fenster des gegenüberliegenden Hauses steht und genüsslich, mit sichtlicher Befriedigung eine Zigarette raucht. Gerate nicht in Panik, lieber Marco, durchsuch nicht die ganze Wohnung. Der Mann da dreht seinen Zeigefinger in der Luft, als wolle er mir sagen: Später, später, lass dir Zeit.?Vielleicht war es eine Uhr, oder ein Schmuckstück, oder ein Stift. Was war es nur, warum habe ich nicht darauf verzichtet, warum habe ich mich überhaupt erst auf das Ausleihen und das unmögliche Zurückgeben eingelassen? Es klingelt, er ist schon da, die Zeit ist um, er ist da. Es klingelt noch einmal. Ich mache nicht auf, ich spreche durch das Holz der Tür. Morgen, sage ich, morgen gebe ich zurück, was ich zurückgeben muss, okay, ich bin kein Dieb, kein Schurke. Okay, keine Sorge, morgen gibst du mir, was du mir schuldest, sagt die Stimme hinter der Wohnungstür. Aber du bist völlig durcheinander, wer völlig durcheinander ist, kann schrecklichen Schaden anrichten, Unvorsichtigkeit kann töten, das weißt du, lieber Marco. Ich höre mein Herz wie eine Trommel schlagen, ich mache mich wieder daran, Schränke zu öffnen und in die Besenkammer, in die Waschmaschine, in alle dunklen Ecken des Hauses zu schauen. Der Mann steht jetzt ganz nah bei mir. Und ich suche wie verrückt, kratze an den Wänden, grabe ein Loch in den Boden, fühle mich so schuldig, dass ich am liebsten sterben würde. Aber dann taucht, ich weiß nicht woher, ein Kind aus einem der Zimmer auf. Es hat ein Gummischwert in der Hand und sagt zu mir, wir bringen das Schwein um. Vom Balkon aus werfen wir Töpfe mit Geranien nach dem Mann, der das Weite sucht.