Kates Seehundtraum
Sie träumte. Später, als dieser Nachttraum der Ausgangspunkt für die Geschichte oder Reise war, die sie im Schlaf erlebte, versuchte sie, sich daran zu erinnern. Doch während ihr der Eindruck blieb, die Stimmung – die Angst und Zuversicht auf eine Weise mischte, wie es im wirklichen Leben nie vorkommen würde –, waren die Einzelheiten verschwunden. Der Traum war um den Morgen herum – sie hatte in der Dunkelheit wachgelegen, um das Ende des Traums erhaschen zu wollen, bevor es ihr entglitt– wie der Beginn eines Epos, einfach und direkt. Sie stieg einen Hang hinab in einer Landschaft, die nordisch war und fremd für sie. Jemand sagte: “Sieh doch, was ist das für ein seltsames Ding, guck mal, da liegt etwas Dunkles”. Sie dachte: Eine Schnecke? Das kann es sicher nicht sein, keine Schnecke ist so riesig wie das. Stattdessen war es ein Seehund, der gestrandet und hilflos inmitten?kahler Felsen oben auf einem kalten Hang lag. Er schrie jämmerlich. Sie hob ihn hoch. Er war schwer. Sie fragte, ob ihm etwas fehle, ob er Hilfe brauche. Sie begriff, dass sie ihn zum Wasser bringen musste. Sie begann, den Seehund in ihren Armen den Hügel hinab zu tragen.
Diese Nacht kam der Traum wieder in ihren Schlaf - die Fortsetzung des Traums von der Robbe. Da sie ihn nun schon zweimal geträumt hatte, wollte er ihr seine Bedeutsamkeit mitteilen. Der Seehund war schwer und glatt. Es war anstrengend, ihn in den Armen zu halten. Sie drohte inmitten der kantigen Steine zu fallen. Wo war das Wasser, wo das Meer? Der Seehund begann unruhig zu werden, und sie beschloss nach Norden zu gehen. Der arme Seehund hatte Narben an beiden Flanken: Er war auf der Suche nach dem Meer über Land gerobbt und hatte sich an Felsen und am steinigen Boden verletzt. Es tat ihr leid, dass sie keine Salbe für diese Wunden hatte, von denen einige frisch waren und bluteten. Vielleicht hatten einige der niedrigen, bitteren Büsche, die aus den Steinen wuchsen, heilende Wirkstoffe. Sie legte den Seehund vorsichtig hin, bückte sich nach unten und zur Seite und rupfte einige Buschtriebe aus. Sie kaute sie und spuckte die Flüssigkeit aus ihrem Mund auf die Wunden der Robbe. Es schien ihr, als würden diese schon heilen, aber sie durfte nicht stehenbleiben, um noch mehr zu tun, also hob sie den Seehund wieder auf und zog mit ihm weiter.
Sie träumte, sobald sie ins Bett ging. Sie saß in einem Kino. Sie sah einen Film, den sie schon zweimal im Wachzustand gesehen hatte. Gerade verfolgte sie die Sequenz mit der armen Schildkröte, die auf einer von einer Atombombe getroffenen Insel im Pazifik die Orientierung verloren hat, und statt ins Meer zurückzukehren, nachdem sie ihre Eier abgelegt hat, wie es die Natur gewöhnlich vorsieht, landeinwärts in eine wasserlose Einöde steuert, wo sie bald sterben wird. Sie saß im Kino im Dunkeln und schaute dem armen Tier zu, wie es sich seinem Tod entgegenschleppte, und sie dachte: Mein armer Seehund, das ist meine Verantwortung. Sie wusste, dass sie träumte, und im Traum, wenn es einen gab, suchte sie den anderen Traum, den Traum mit dem Seehund, denn wenn sie nichts für die Schildkröte tun konnte, die bald sterben wird, so musste sie den Seehund retten, aber so wie sie in einem Haus in ein falsches Zimmer geraten war, so war sie im falschen Traum, und es gelang ihr nicht, die Tür zum richtigen zu öffnen. Wo war der Seehund? Lag er immer noch verlassen inmitten kahler Felsen und wartete mit seinen dunklen Augen auf sie?