Wieder Morgenfrische in meinem Zimmer.  Wie gewohnt schläfst du neben mir. Zuerst gehe ich in die Küche. Im Haus herrscht noch das Chaos vom Vorabend. Auf dem Boden ein namenloser Soldat, gefallen in dem von meinem Sohn gewonnenen Krieg. Auf dem Sofa liegt noch ein aufgeschlagenes Buch, immer auf derselben Seite von gestern Abend. Gleich stehen alle auf, denke ich. Was kann ich in diesen wenigen Augenblicken tun, die mir allein gehören?  Das Abfahrsignal eines Zuges ruft mich. Eine freundliche Lautsprecherstimme fordert die Fahrgäste zum letzten Mal auf, einzusteigen. Ich sehe eine fremde Stadt, durch die ich allein mitten im Regen spazieren gehe. Der Klang eines Akkordeons zieht durch ihre Straßen, die voller fremder Menschen sind. Ich will am liebsten einer von ihnen sein. Und so überlege ich nicht lange. Ich mache die Haustür auf und laufe los. Egal, wohin. Gleich wachst du auf und streckst deine Hand nach mir aus. Ich bin dann schon weg. Ich lache bei dem Gedanken, dass du aufstehst und meinen Namen durch die Wohnung rufst. Du triffst auf denselben namenlosen Soldaten, aber er verrät mich nicht, er ist schon seit gestern Abend tot, erinnerst du dich, unser Sohn tötete ihn, während ich mich nach Ruhe sehnte, um eine letzte Seite des Buches zu lesen, das noch auf dem Sofa liegt.

Originaltitel: Due vite. Hörspiel von Anilda Ibrahimi (ein Auszug). Gesendet am 02.12.2011 in: Il Sogno di mezzanotte, Radio Tre. Übersetzt von Stephanie Kunzemann.

Glossar

1. Morgenfrische

   • Substantiv: Die Frische und Kühle des Morgens, oft verbunden mit einem Gefühl der Erneuerung.
   • Im Text: „Wieder Morgenfrische in meinem Zimmer.“

2. Chaos

   • Substantiv: Ein Zustand völliger Unordnung oder Verwirrung.
   • Im Text: „Im Haus herrscht noch das Chaos vom Vorabend.“

3. namenlos

   • Adjektiv: Ohne Namen; anonym oder unbekannt.
   • Im Text: „Auf dem Boden ein namenloser Soldat, gefallen in dem von meinem Sohn gewonnenen Krieg.“

4. aufgeschlagen

   • Adjektiv: Offen liegend, oft in Bezug auf ein Buch.
   • Im Text: „Auf dem Sofa liegt noch ein aufgeschlagenes Buch, immer auf derselben Seite von gestern Abend.“

5. Abfahrsignal

   • Substantiv: Ein akustisches oder visuelles Signal, das die bevorstehende Abfahrt eines Zuges ankündigt.
   • Im Text: „Das Abfahrsignal eines Zuges ruft mich.“

6. Lautsprecherstimme

   • Substantiv: Eine Stimme, die über Lautsprecher übertragen wird, oft in öffentlichen Bereichen.
   • Im Text: „Eine freundliche Lautsprecherstimme fordert die Fahrgäste zum letzten Mal auf, einzusteigen.“

7. Akkordeon

   • Substantiv: Ein Musikinstrument, das durch das Zusammendrücken von Bälgen und das Drücken von Tasten gespielt wird.
   • Im Text: „Der Klang eines Akkordeons zieht durch ihre Straßen...“

8. fremd

   • Adjektiv: Unbekannt oder nicht vertraut; aus einem anderen Ort oder Land.
   • Im Text: „Ich sehe eine fremde Stadt, durch die ich allein mitten im Regen spazieren gehe.“

9. verraten

   • Verb: Jemandem etwas Geheimes oder Vertrauliches preisgeben.
   • Im Text: „...aber er verrät mich nicht, er ist schon seit gestern Abend tot...“

10. sehnen

    • Verb: Ein starkes Verlangen oder Bedürfnis nach etwas haben.
    • Im Text: „...während ich mich nach Ruhe sehnte, um eine letzte Seite des Buches zu lesen...“

Minikurs

Zu diesem Text gibt es drei Minikurse: Zwei Leben (DE-DE); Due vite (IT-DE); Two lives (EN-DE)

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