Abschied
Wir waren in einer so grässlichen Stimmung, wenn man schon lange Abschied genommen hat, aber noch nicht bereit ist, sich zu trennen, weil der Zug noch nicht abgefahren ist. Die Bahnhofshalle war wie alle Bahnhofshallen, schmutzig und zugig, erfüllt vom Lärm, Lärm von Stimmen und Wagen. Charlotte stand am Fenster des langen Flurs, und wir konnten uns doch diese letzten Minuten, diese kostbaren, letzten, gemeinsamen Minuten unseres Lebens nicht durch Winkzeichen aus einem überfüllten Abteil heraus verständigen ...
„Nett“, sagte sie schon zum drittenmal, „wirklich nett, dass du bei mir vorbeigekommen bist.“ „Ich bitte dich, wo wir uns schon so lange kennen. Fünfzehn Jahre.“
„Ja, ja, wir sind jetzt dreißig, immerhin ... kein Grund ...“
„Hör auf, ich bitte dich. Ja, wir sind jetzt dreißig. So alt wie die russische Revolution ...“
„So alt wie der Dreck und der Hunger...“
„Ein bisschen jünger...“
„Du hast Recht, wir sind furchtbar jung.“ Sie lachte.
„Sagtest du etwas?“ fragte sie nervös.
„Nein, es war mein Bein.“
„Du musst was dran tun.“
„Ja, ich tu was dran, es redet wirklich zu viel... “
„Kannst du überhaupt noch stehen?“
„Ja ...“, und ich wollte ihr eigentlich sagen, dass ich sie liebte, aber ich kam nicht dazu, schon seit fünfzehn Jahren ...
„Was?“
„Nichts ... du fährst also ins Ausland, nach Schweden ... “
„Ja, ich schäme mich ein bisschen... eigentlich gehört das doch zu unserem Leben, Dreck und Lumpen und Trümmer, und ich schäme mich ein bisschen. Ich komme mir scheußlich vor ...“
„Unsinn, freu dich auf Schweden ..."
„Manchmal freu’ ich mich auch, weißt du, das Essen, das muss herrlich sein, und nichts, gar nichts kaputt. Er schreibt ganz begeistert ...“
Die Stimme, die immer sagt, wann die Züge abfahren, erklang jetzt einen Bahnsteig näher, und ich erschrak, aber es war noch nicht unser Bahnsteig. Die Stimme kündigte nur einen internationalen Zug von Rotterdam nach Basel an. Einen Augenblick lang fühlte ich den Mut, diese kleine Person einfach aus dem Fenster zu ziehen und hier zu behalten, sie gehörte mir doch, ich liebte sie, ja ...
„Was ist?“
„Nichts“, sagte ich, „freu dich auf Schweden ... “
„Ja. Er hat eine tolle Energie, findest du nicht? Drei Jahre gefangen in Russland, abenteuerliche Flucht, und jetzt liest er da schon über Rubens.“
„Toll, wirklich toll..."
„Du musst auch was tun, versuch wenigstens zu promovieren...“
„Halt die Schnauze!“
„Was?“ fragte sie leise. „Was?“ sie war ganz bleich geworden.
„Verzeih,“ flüsterte ich, „ich meine nur das Bein, ich rede manchmal mit ihm ..."
Sie sah absolut nicht nach Rubens aus, sie sah eher nach Picasso aus, und ich fragte mich dauernd, warum er sie bloß geheiratet hat, sie war nicht einmal hübsch, und ich liebte sie. Auf dem Bahnsteig war es ruhiger geworden, nur noch ein paar Abschiedsleute standen herum. Jeden Augenblick konnte die Stimme sagen, dass der Zug abfahren soll. Jeder Augenblick konnte der letzte sein ...
„Du musst doch etwas tun, es geht so nicht.“
„Nein“, sagte ich.
Sie war das Gegenteil von Rubens: schlank, hochbeinig, nervös, und sie war so alt wie die russische Revolution, so alt wie der Hunger und der Dreck in Europa und der Krieg ... „Ich kann’s nicht glauben ... Schweden ... es ist wie ein Traum ..."
„Es ist alles ein Traum.“
„Meinst du?“
„Gewiss. Fünfzehn Jahre. Dreißig Jahre ... Noch dreißig Jahre. Warum promovieren, lohnt sich nicht. Sei still, bitte!“
„Redest du mit dem Bein?“ „Ja.“
„Was sagt es denn?“ „Horch.“
Wir waren ganz still und blickten uns an und lächelten, und wir sagten es uns, ohne ein Wort zu sprechen. Sie lächelte mir zu: „Verstehst du jetzt, ist es gut?“
„Ja... ja.“
„Wirklich?“
„Ja, ja.“
„Siehst du“, fuhr sie leise fort, „das ist es ja gar nicht, dass man zusammen ist und alles. Das ist es, nicht wahr?“
Die Stimme, die sagt, wann die Züge abfahren, war jetzt genau über mir, und ich zuckte zusammen. „Auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen!“
Ganz langsam fuhr der Zug an und entfernte sich im Dunkel der großen Halle ...
(gelesen von Stephanie Kunzemann)